HERRLICHE MISCHFRANKATUR: Von Sigrist in Offenbach nach Sigrist in Solothurn
Ein herrlicher Briefumschlag. Absender ist Herr Adolf Sigrist, Taunusstraße 24 in Offenbach.
Der Brief ging am 09.11.1923 nach nach Solothurn in der Schweiz. An wem kann ich nicht genau entziffern. Vielleicht an „Frau F. Sigrist…“?
Im Internet ist der Absender „Adolf Sigrist“ in zwei interessanten Dokumenten zu finden:
„Liebe Tante u. Onkel! Eure schöne Karte, vom 4.5.15 erhalten, was mich sehr freut, mir geht es noch gut, wenn nur die schreckliche Schießerei hier nicht wäre, habe heute wieder so im Granatfeuer gestanden, bin aber zum Glück gut davon gekommen, einige von meinen Kameraden sind schwer und leicht verwundet worden, ach wenn es doch bald nur zu Ende wäre mit diesem entsetzlichen Krieg. Ihr glaubt gar nicht wie mir das auf die Nerven schlägt.“
Es folgen Grüße an das Ehepaar. Wohl nachträglich hat er auf der randvoll geschriebenen Karte noch jeweils separat einen Gruß an Georg und Heinr[ich] „hineingequetscht“.
Absender und Empfänger gehörten der Arbeiterklasse an: Griesbach war Steindrucker und Sigrist Kartonnagearbeiter und wohnten beide in der Industriestadt Offenbach bei Frankfurt am Main Quelle: Amtliches Adreßbuch für Stadt und Kreis Offenbach a. M. 1937 und 1938] … Adolf Sigrist, Taunusstr. 24). Griesbach hat zwar mit der Kartenabbildung trotz des Wortes „Massengräber“ eine halbwegs unverfängliche Karte verschickt, doch in seiner Mitteilung spricht er Klartext. Trotzdem ging die Karte durch die Zensur, was aus dem Briefstempel des 80. Regiments im Adressfeld zu ersehen ist. Da es sich bei den Empfängern mit Onkel und Tante nicht um die allernächsten Verwandten handelte, wählte er eine deutliche Sprache. Seine Eltern und Geschwister hätte er mit diesem Text sicherlich erheblich beunruhigt. Wie so viele Soldaten bemerkt er, dass es ihm „noch gut“ gehe. Anders als die allermeisten Soldaten erläutert er dann jedoch mit der Erwähnung der „schreckliche[n] Schießerei“ und des heftigen Granatfeuers die Brüchigkeit des Wörtchens „noch“. Wie schnell sich der noch gute Zustand ändern kann, schildert er mit dem Hinweis auf die leicht und schwer Verwundeten. Die in seinem kurzen Bericht enthaltenen Ängste und Befürchtungen münden in seinen Wunsch nach einem baldigen Ende des „entsetzlichen Krieges“. Hierbei spricht er nicht von einem „Siegfrieden“, wie sonst so oft auf Karten gedruckt oder handgeschrieben der Fall ist, sondern einfach nur vom bedingungslosen Ende des Krieges. Danach betont er unter Verweis auf seine nervliche Verfassung, dass er jetzt schon, ohne körperliche Verletzungen erlebt zu haben, vom Krieg gezeichnet sei. Was sich aus heutiger Perspektive und Sprachgewohnheiten etwas seltsam anhört, hatte damals einen realen und brutalen Hintergrund. Eine große Zahl von Soldaten bekam durch die mörderischen Materialschlachten starke nervliche Probleme und musste in Nervenkliniken eingewiesen werden. Abschließend kann man den Gruß an Georg und Heinrich – das waren ver-mutlich nahe Verwandte – nicht nur als einfachen Gruß verstehen, sondern – falls sie noch nicht beim Militär waren – auch als eine Warnung an sie, sich keinesfalls freiwillig zum Krieg zu melden.
Griesbach hat den Krieg überlebt und war später in Offenbach als Steindrucker tätig. Sein Onkel Adolf (Kartonnagearbeiter) ist für die 1930er-Jahre in Offenbach nachweisbar. [Amtliches Adreßbuch für Stadt und Kreis Offenbach a. M. 1937 und 1938] [1937]: Teil I. 47, 147.
Hinweis: Die Postkarte vom 07.05.1915 ist in dem Dokument abgebildet.
Demnach war Adolf Sigrist im Jahr 1915 bereits in Offenbach in der Taunustraße 24 wohnhaft und von Beruf Kartonnagearbeiter. Diese Adresse traf auch noch 1937/38 zu.
2. VERZEICHNISDES WISSENSCHAFTLICH-POLITISCHENNACHLASSES MAX LUDWIG OPPENHEIMER (1919–1994)
– Verfolgung und Antifaschistischer Widerstand 1933-1945
– Geschichte der Gewerkschaftsbewegung 1845-1952
– Aufarbeitung geschehenen Unrechts 1945-1992
Seit 1998 im Bestand des Archivs der Stadt Wiesloch. Bearbeitet von Manfred Stange, 2002:
Es finden sich Erlebnisberichte (105-106, 125–auch in 154, 527, 664) und der Abschiedbrief des zu Tode Verurteilten Georg Lechleiter (111–weitere Abschiedsbriefe: 116, 117, 640).
106. Strafsache ’Lechleiter-Gruppe’ / ’Der Fall Vorbote’ (4 Nummern einer kommunistischen Zeitung, gedruckt u. verteilt von Oktober 1941 bis Februar 1942).
Angeklagt beim Volksgerichtshof Berlin wg. Vorbereitung zum Hochverrat, Feindbegünstigung, Zersetzung der Wehrkraft u. Verbreitung ausländischer Rundfunksendungen und zum Tode durch Hinrichtung verurteilt (vollzogen am 15.9.1942 in Stuttgart): Georg Lechleiter, Jakob Faulhaber, Rudolf Langendorf, Ludwig Moldrazyk, Anton Kurz (alle aus MA), Käthe Philippine Seitz geb. Brunnemer aus HD, Adolf Sigrist, Philipp Brunnemer, May Winterhalter (alle aus MA), Alfred Seitz aus HD, Robert Schmoll aus MA, Rudolf Maus aus MA, Johann Kupka aus Ilvesheim, Daniel Seizinger aus MA. Mitgl. überwiegend der KPD, teilw. der SPD bzw. dieser nahestehend.
Weiterführend: Georg Lechleiter – Widerstandsgruppe Lechleiter
Demnach war Adolf Sigrist Mitglied der Widerstandsgruppe Lechleiter und wurde am 15.09.1942 vom NS-Regime ermordet.
Der bzw. die Empfängerin des Briefes ist unklar. Allerdingss gehe ich von Verwandschaft aus.
09.11.1923 frankiert mit 30 Briefmarken mit einem Portowert von insgesamt 4.000.000.000 Milliarden Mark:
312 A | 2 Millionen | 1 x | 2.000.000 |
316 A | 4 Millionen | 2 x | 8.000.000 |
319 A | 20 Millionen | 5 x | 100.000.000 |
320 A | 30 Millionen | 3 x | 90.000.000 |
321 A | 50 Millionen | 6 x | 300.000.000 |
322 A | 100 Millionen | 5 x | 500.000.000 |
323 A | 200 Millionen | 5 x | 1.000.000.000 |
324 A | 500 Millionen | 2 x | 1.000.000.000 |
325 A | 1 Milliarde | 1 x | 1.000.000.000 |
Dazu noch sehr schöne Stempel: „KAISER FRIEDRICH QUELLE DEUTSCHES EDELWASSER OFFENBACH (MAIN)“.
Den Briefumschlag habe ich am 18.12.2022 über ebay für insgesamt 29,10 € ersteigert. Es gab vier Mitbieter und 10 Gebote. Der Umschlag war also ziemlich gefragt.